Zweisprachigkeit im Elsass und Parallelen zur Schweiz – Hintergrund und Perspektiven – Bedeutung der europäischen Sprachencharta

Publié le 31 août 2020
par Jean-Marie Woehrling

Ein realistischer Bericht über die Zweisprachigkeit im Elsass klingt zwangsläufig ernüchternd. Die herkömmliche Zweisprachigkeit dieser Region existiert nur noch spurenweise. Aber das Elsass bleibt eine Region zwischen den romanischen und germanischen Kulturäumen. Die Berufung und die Chancen, einn Bindestrich zwischen Sprachen und Kulturen zu sein, sind nicht verloren.

1) Was ist die Regionalsprache des Elsass ? Was ist seine Geschichte?

Die erste Frage, die sich stellt, ist die nach einer Definition, was die traditionelle Sprache des Elsass ist, abgesehen vom Französischen natürlich, das nunmehr die vorherrschende Sprache in der Region ist.

Es genügt nicht, festzustellen, dass die Elsässer traditionellerweise Dialekte aus der Gruppe der alemannischen Dialekte sprechen – oder zumindest sprachen: Niederalemannisch für den größten Teil des Elsass, Hochalemannisch für den Süden. Im Norden des Elsass wird auch ein fränkischer Dialekt gesprochen.

Die Frage, die sich immer wieder stellt, ist, in welcher Beziehung diese Dialekte zur deutschen Standardsprache stehen und ob diese Standardsprache auch als Sprache der Elsässer bezeichnet werden kann.

Diese Fragestellung kann man mit der Situation in der deutschsprachigen Schweiz vergleichen, deren Einwohner zwar Dialekt sprechen, aber Hochdeutsch als ihre Schriftsprache nutzen.

Das Elsass jedoch befindet sich in einem Konflikt zwischen staatlicher Zugehörigkeit auf der einen – und sprachlicher Zugehörigkeit auf der anderen Seite. Dazu gibt es im Elsass zwei unterschiedliche Meinungen.

Einige sind der Auffassung, die Bevölkerung im Elsass hätte sich bereits seit dem 17. Jahrhundert von der „deutschen Koine„ distanziert, die im Gange war, sich als eine übergeordnete Sprache zu etablieren. Daher hätten die Elsässer die Vereinheitlichung der deutschen Schriftsprache nicht mitgemacht, welche daher für sie fremd geblieben sei und die sie, ausgenommen von einigen Gelehrten, nicht beherrschten. Die Dialekte des Elsass hätten sich seit dieser Epoche getrennt vom Standard -Hochdeutschen entwickelt, welches erst durch die deutschen Besatzungsperioden importiert worden sei.

Diese Sichtweise ist offensichtlich mit politischen Vorstellungen verbunden und hat die Absicht, das Elsass vom deutschen kulturellen Raum zu entfernen. Sie zielt darauf ab, die „Standardsprache Deutsch“ als eine Fremdsprache im Elsass zu kennzeichnen und das sogenannte „Elsässische“ als eine eigenständische Sprache zu definieren, die zwar mit dem Deutschen verwandt, aber trotzdem davon entfernt sei.

Ich vertrete eine andere These, zufolge der das Elsass einen solchen Bruch mit der deutschen Sprachgemeinschaft in der Folge der Angliederung an Frankreich in der Mitte des 17. Jahrhunderts nicht erfahren hat. Nicht nur im Elsass, sondern auch im ganzen deutschsprachigen Gebiet haben die Einwohner die Dialekte als ihre Sprache beibehalten, wobei die deutsche Schriftsprache, wie der Name schon sagt, nur als geschriebene Sprache von einer dünnen Schicht Gebildeter, Juristen und Drucker benutzt wurde. Wenn Zeitzeugen vom Beginn des 19. Jahrhunderts berichten, die Sprache der Straßburger ist das jämmerlichste Deutsch das man hören kann, konnte man wahrscheinlich dasselbe über zahlreiche weitere Orte der deutschen Sprachgemeinschaft sagen.

Übrigens wurde im Elsass in den Grundschulen bis etwa 1860 auf Deutsch unterrichtet. Zweifellos wurde die wohlhabende Gesellschaftsschicht (das Bürgertum, intellektuelle Berufe, hohe Beamte usw.) seit dem 18. Jahrhundert französisiert, aber diese Elite machte gerade einmal etwa 5% der Bevölkerung aus und zudem war sie vielerorts zweisprachig. Es ist zwar richtig, dass diese Situation dafür sorgte, dass das Elsass, welches zwischen dem 12. und 17. Jahrhundert viele wichtige Autoren hervorgebracht hat, nach 1700 keine nennenswerten deutschsprachigen Literaturwerke mehr zu verzeichnen hat. Nichtsdestotrotz wurde, sofern geschrieben wurde, auf Hochdeutsch und nicht im Dialekt geschrieben. Eine Französisierung auf umfassender Ebene hat der französische Staat lediglich um die Mitte des 19. Jahrhunderts effektiv unternommen. Das Elsass wurde jedoch schon 1871 deutsch. Erst das Deutsche Reich hat dafür gesorgt, dass die Schriftsprache für einen großen Teil der Bevölkerung des Reiches zur Umgangssprache wurde. Diese Politik hat man, ähnlich wie in den anderen Ländern im Reich, nahezu 50 Jahre lang auch im Elsass verfolgt. Trotzdem erfuhr der Dialekt während der deutschen Zeit sein goldenes Zeitalter, weil er von den „Altelsässern“ benutzt wurde, um sich von den „Altdeutschen“ zu unterscheiden.

Nach 1918 wurde die Französisierung kräftig vorangetrieben, was allerdings das Identitätsgefühl der Elsässer eher gestärkt hat. Zu diesem Zeitpunkt haben die Elsässer, was den Unterricht und die Verwaltung betrifft, einen Status für die deutsche Sprache und nicht für die Dialekte gefordert. Hätte man die Elsässer 1930 zu ihrer Sprache befragt, hätten sie ihre Dialekte ohne Zweifel als deutsch und das Deutsche als Standardsprache dieser Dialekte bezeichnet.

Anfang 1950 waren 90% der Bevölkerung quasi „deutschsprachig“, das heißt, es wurde hauptsächlich Dialekt gesprochen. Zudem hatte bis zum Ende des 2. Weltkrieges die Schulbildung für eine ziemlich gute Kenntnis der deutschen Standardsprache gesorgt. Lediglich weniger als 10% waren ausschließlich französischsprachig, in erster Linie waren es „Innerfranzosen“. 30-40% waren zweisprachig, obwohl mit weitgehend nur oberflächlichen Kenntnissen des Französischen wie auch der deutschen Schriftsprache.

Noch bis 1970 wurde im Elsass von der Bevölkerung das deutsche Fernsehen dem französischen vorgezogen und auf Deutsch herausgegebene Regionalzeitungen verzeichneten bedeutendere Auflagen als die französischen.

Diese Lage hat sich aber dramatisch geändert.

2) Wer spricht heute noch die Regionalsprache? Woher kommt diese Entwicklung?

Heute, 2014, beläuft sich der Anteil der nur Deutschsprechenden gegen 0%.

Was den Dialekt betrifft, erklären einer aktuellen Telefonumfrage (2012) zufolge 43% der Einwohner des Elsass, , dass sie das Elsässische gut beherrschen und 33%, dass sie es ein wenig sprechen oder verstehen würden. Diese Zahlen scheinen aber übertrieben optimistisch und sogar unwahrscheinlich zu sein. Man kann davon ausgehen, dass die Befragten ihre Dialektkenntnisse oft überschätzen, wenn sie behaupten, dass sie fließend Dialekt sprechen, obwohl sie ihn immer seltener gebrauchen. Zusätzlich fällt derselben Umfrage zufolge der Anteil an Dialektsprechern bei den 30- bis 44-Jährigen auf 24%, bei den 18- bis 29-Jährigen auf 12% und bei den 3- bis 17-Jährigen auf nur 3%.
 
Die Realität ist, nach meiner persönlichen Einschätzung, dass die unter 60-Jährigen überwiegend passiv den Dialekt beherrschen und dass die Zahl, der aktiv Sprechenden im großen Ganzen unter 20% liegt. Bei den jungen Generationen im gebärfähigen Alter liegt der Wert vermutlich bei unter 5%. Die Zahl der Kinder, die dialektsprachig in die Vorschule kommen, liegt bei unter 1%. Diese Kinder allerdings geben ihren Dialekt sehr schnell auf, da die Schule und die anderen Kinder, abgesehen von wenigen Ausnahmen, französischsprachig sind.

Die Elsässer unter 80 Jahren haben Hochdeutsch lediglich als Fremdsprache an der Oberschule gelernt, ein Unterricht, der zu weithin unzureichenden, vor allem passiven Kenntnissen der Standardsprache geführt hat. Gute Kenntnisse der deutschen Sprache sind daher im Elsass selten geworden: Auf dem Arbeitsmarkt mangelt es in jedem Sektor an zweisprachigem Fachpersonal.
Diese Einschätzung kann teilweise als übermäßig pessimistisch erscheinen.
In der Tat gibt es Ausnahmen. In den ländlichen Gebieten hört man noch Dialekt. Familien mit protestantischer Tradition haben ihre Deutschkenntnisse etwas besser als andere zu erhalten verstanden, da Gottesdienste und Religionsunterricht relativ lange auf Deutsch praktiziert wurden. Sondersituation ändern aber nichts an der allgemeinen Situation: Verlust der Sprachkenntnisse, was sowohl den Dialekt wie auch die deutsche Standardsprache betrifft.

Es muss zudem betont werden, dass das Elsass eine Region mit ausgesprochen vielen Immigranten ist: Franzosen aus dem restlichen Frankreich und Immigranten aus anderen Ländern machen annähernd 50% der Einwohner im Elsass aus (Das ist eine persönliche Einschätzung: Statistiken dieser Art sind verboten!). Für diesen Teil der Bevölkerung sind sowohl der Dialekt als auch Deutsch etwas Fremdes.

Alles in allem kommt man zum Schluss, dass die Bewohner des Elsass nicht mehr zweisprachig sind. Während jeder heute Französisch spricht, sind diejenigen, die sich fließend im Dialekt oder auf Deutsch ausdrücken können sowie Deutsch ohne Probleme lesen und schreiben können, eine seltene Ausnahme geworden.

Zum Beispiel haben wir im Elsässischen Kulturzentrum in Straßburg große Schwierigkeiten, Personen zu finden, die fähig sind, einen Vortrag auf Dialekt zu halten und selbst einen kleinen Saal mit Zuhörern für solch einen Vortrag zu füllen. Bieten wir Vorträge auf Hochdeutsch an, fällt das Publikum noch spärlicher aus.

Ergo haben die Einwohner des Elsass sprachlich eine grundlegende „Mutation“ erfahren und zwar in einem extrem schnellen Tempo: 1945 gab es 90% Dialektsprecher, 50 Jahre später weniger als 20%! Die Deutschkenntnisse sind sogar noch steiler abgefallen: 1945 waren es 80%, 50 Jahre später weniger als 5%.

3) Vergegenwärtigen wir uns die Gründe für diese Verwandlung:

Ich sehe 5 Hauptgründe für diese Situation:

  • Das Verteufeln der deutschen Kultur nach 1945, die selbst an zwei Faktoren gebunden ist: die Verbindung nach dem 2. Weltkrieg von allem, das Deutsch ist, – und davon insbesondere die Sprache – mit dem Nationalsozialismus; die Überzeugung der Elsässer, die unbedingt „gute Franzosen“ sein wollen, dass sie sich von ihrer besonderen, deutsch geprägten, Identität distanzieren müssten, um sich vollständig in die Republik einzugliedern.
  • Die deutsche Sprache (der Standard insbesondere aber auch der Dialekt) wurde schrittweise aus dem öffentlichen Raum verdrängt: aus den Schulen (abgesehen vom Unterricht des Deutschen als Fremdsprache), aus der Verwaltung, den Kirchen, Medien, Verbänden, öffentlichen Veranstaltungen (das Mundart-Theater und das Kabarett sind die einzigen öffentlichen Orte, an denen noch Regionalsprache vorzufinden ist). In den ersten Jahren nach dem Krieg gab es noch eine größere Zahl an Rundfunksendungen in der Regionalsprache; diese sind allmählich zurückgegangen. Heute machen Fernsehsendungen im Dialekt nur einige wenige Minuten am Tag aus; im Radio wurden Dialektsendungen auf weniger besuchte Mittelwellen verbannt und im regionalen Fernsehen und Radio ist das Hochdeutsche überhaupt nicht mehr vertreten.
  • Der Anpassungsdrang der Elsässer: zum « Karriere machen » und um sozial aufzusteigen, muss man sich zu französisieren wissen. Viele elsässische Eltern haben nach dem Krieg entschieden, nur noch Französisch mit ihren Kindern zu sprechen, um bessere Voraussetzungen für den schulischen und beruflichen Erfolg dieser Generation zu schaffen. Den Elsässern fehlt weitgehend der Kampfgeist: sie finden sich allzu schnell mit ihrem Schicksal ab: sie sind Fatalisten.
  • Die Trennung von Dialekt und deutscher Sprache (und manchmal sogar der künstliche Streit zwischen diesen beiden Ausdrucksformen): Dialekte, die sich auf ihre rein mündliche Verwendung reduzieren, ohne Unterstützung durch eine Standartsprache, verarmen und verkümmern zwangsläufig. Es existiert nur vereinzelt Literatur, die im Dialekt geschrieben wurde und zwar mehr oder weniger als Lautschrift: Theaterstücke, Gedichte und auch einige Prosatexte. Ohne Zugriff auf das Standarddeutsche müssen die Dialektsprecher lexikalische Lücken mit französischem Vokabular füllen. Oft ist zwar die Satzstruktur dialektalisch, die etwas anspruchsvollere Terminologie jedoch französisch.
  • Die praktisch totale Abwesenheit einer Wahrnehmung in der Politik. Die gewählten Vertreter der Region deuten ihre Besorgnis angesichts des Verlusts der Regionalsprache an, jedoch zeigen sie keinerlei Entschlusskraft, etwas an dieser Situation zu ändern. Gelegentlich werden Bitten an die Zentralregierung geschickt, aber es wird von den Gebietskörperschaften kein Gebrauch von den Zuständigkeiten gemacht, die sie besitzen, um eine regionale Sprachpolitik zugunsten der Zweisprachigkeit zu entwickeln. Für die Politiker, die nationalen Parteien angehören, ist es naturgemäß schwierig, regionale Positionen einzunehmen. Die Bildung und die Medien, also auch die politische Meinung, sind und bleiben stark zentralistisch geprägt: für sie sind die Regionalkulturen nur „Folklore“.

4) Ein kleiner Vergleich mit der Schweiz

Ein Vergleich mit der Schweiz liegt auf der Hand:

  • Eine Gemeinsamkeit: ein komplexes Verhältnis mit dem Nachbarland Deutschland und seiner Kultur. Die Frage nach der Verknüpfung von Dialekt und Schriftsprache.
  • Jedoch sind die Unterschiede grundsätzlicher Art: Die deutschsprachige Schweiz ist durchdrungen mit der deutschen Sprache und Kultur, welche im Elsass hingegen im Begriff sind, zu verschwinden. Die politische Ordnung der Schweiz überlässt jedem Kanton eine große Souveränität, besonders bezüglich der Sprache, Kultur und Bildung. Außerdem ist die regionale Autonomie, die Achtung vor den kulturellen Besonderheiten jeder Region, ein zentraler Bestandteil der schweizerischen Identität. Trotz einer gewissen Dezentralisierung gehört das Elsass einem nationalen System an, das von einem juristischen ebenso wie ideologischen Zentralismus geprägt ist. Der Grundsatz der Gleichheit wird in der Schweiz als Respekt vor der Verschiedenheit verstanden, in Frankreich hingegen als Vorschrift zur Uniformität, was sich in der Vereinheitlichung durch ein nationales Modell durchschlägt. Letztendlich befürwortet die Schweiz die Idee der Mehrsprachigkeit, während die französische Sprache in Frankreich und somit auch im Elsass zu einer Art Staatsreligion erhoben wird.

5) Welche Zukunft hat die Zweisprachigkeit im Elsass?

Was sind nun angesichts dieser Bedingungen die Perspektiven für die Zweisprachigkeit im Elsass? Für viele ist die Situation aussichtslos und ihnen erscheinen die spärlichen getroffenen Initiativen lediglich als « lebenserhaltende Maßnahmen ».

Wie dem auch sei, folgende Feststellungen erscheinen mir als angebracht:

  • Das traditionelle Elsass ist tot: Wir werden das goldene Zeitalter des Dialekts und der Zweisprachigkeit nicht wiederbeleben, wie es vor und nach dem Ersten Weltkrieg existieren konnte.
  • Jedoch kann sich die Geographie gegenüber der Geschichte durchsetzen. Obwohl wir durch den Verlauf der Geschichte unsere Wurzeln verloren haben, bleiben wir geographisch ein Teil des Oberrheins, befinden wir uns in diesem Gebiet der Begegnung der französischsprachigen und der deutschsprachigen Kulturen. Das Elsass kann als eine Symbiose aus diesen beiden Kulturen verstanden werden. Unser Ziel, gegenüber diesen beiden Kulturen offen zu bleiben und sie zu verbinden, bleibt ein sinnvolles Projekt für die Zukunft (Vielleicht hat man in Fribourg/Freiburg diesselben Ambition, ist dem Ziel aber bereits viel näher).
  • Die Bedingungen scheinen sich einigermaßen zu verändern:

Das Elsass befreit sich langsam vom dem Trauma des Zweiten Weltkriegs und wird sich wieder bewusst, dass seine wirtschaftlichen Interessen in der Nordschweiz und in Baden liegen: Ein neues Interesse an der deutschen Sprache und Kultur zeichnet sich klar ab, da wir 10% Arbeitslosigkeit (20% bei den jungen Leuten) zu verzeichnen haben während es in Deutschland und in der Schweiz einen Fachkräftemangel gibt.

Europa ist trotz seiner Schwächen und seiner Langsamkeit maßgeblich für das Elsass geworden und erlaubt es ihm, sich Stück für Stück zu „entpro­vinzialisieren“;

die aktuelle Debatte zur europäischen Charta der Regional- und Minderheitssprachen zeigt, dass die Regionalsprachen zumindest im Diskurs Anerkennung erlangt haben;

das Unterrichten der Regionalsprache hat in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht.

Auf diese letzten Punkte wollen wir etwas genauer eingehen:

6) Die europäische Charta der Regional- und Minderheitssprachen im Elsass

Frankreich ist das einzige Land, in dem die Charta eine derart intensive Debatte ausgelöst hat. Dies ist auf die Entscheidung des Verfassungsrates zurückzuführen, nach der die Charta nicht mit der französischen Verfassung vereinbar sei. Um zu solch einem Ergebnis zu gelangen, musste der Verfassungsrat den Sinn der Charta verdrehen, ebenso wie die französische Verfassung außerordentlich restriktiv gegenüber Regionalsprachen auslegen. Es wurde behauptet, ein Schutz der Regionalsprachen bedeutet, dass den Sprechern dieser Sprachen Sonderrechte eingeräumt würden, was im Widerspruch zum Gleichheitsprinzip und zum Status der Nationalsprache stünde.
Der Verfassungsrat hat daraufhin die Möglichkeit, diese Sprachen rechtlich zu schützen, blockiert; eine Situation, die die Charta vermeiden wollte, indem sie, statt der Rechte der Minderheiten, den Schutz des gemeinsamen Kulturerbes, das diese Sprachen darstellen, hervorhebt.

Ein Gesetzesvorhaben, das vor wenigen Wochen in der Nationalversammlung verabschiedet wurde, löst diese Situation einer Blockade nicht: Es sieht wohl eine Änderung der Verfassung vor, um die Ratifizierung der Charta zu erlauben, fügt aber zugleich auch Restriktionen in die Verfassung gegenüber dem Schutz von Regionalsprachen ein, welche dem Geist der Charta widersprechen und deren korrekte Umsetzung verhindern. Übrigens ist dieses Verfahren zur Revision der Verfassung noch lange nicht abgeschlossen.

Deswegen wollen die Verteidiger der Regionalsprache im Elsass die formale Debatte zur Verfassungsänderung nicht abwarten. Wir heben hervor, dass selbst wenn die Charta nicht ratifiziert wird, zahlreichen Verpflichtungen, die sie vorsieht, bereits nachgegangen werden kann. Wir halten daher die Gemeinden dazu an, eine „regionale Fassung der Charta“ zu unterzeichnen und sich dazu zu verpflichten, die Maßnahmen zum Schutz der Regionalsprachen, welche in ihrem Zuständigkeitsbereich liegen, schon jetzt umzusetzen. Wir hoffen daher, die Gewählten in unseren Gebietskörperschaften dazu zu bringen, dass sie sich nicht länger damit begnügen, sich bei den Zentralbehörden zu beschweren: sie können und müssen selbst handeln. Die Mittel, die den Gebietskörperschaften trotz des zentralistischen Charakters unseres Systems zur Verfügung stehen, sind beträchtlich und werden nur in kläglicher Weise im Sinne der Regionalsprache verwendet.

Einige Städte haben diese „regionalisierte“ Charta unterschrieben und sich damit verpflichtet ,eine aktive Sprachpolitik für die Unterstützung der Zweisprachigkeit zu betreiben. Wir sind uns über die Unzuverlässigkeit der Versprechungen unserer gewählten Vertreter im Klaren, aber wenn wir ihnen etwas von ihrem guten Gewissen nehmen können, ist es schon ein kleiner Fortschritt.
Man kann feststellen dass die Charta in jedem Falle eine wichtige Rolle als Instrument der Legitimierung der Regionalsprachen spielt und dass sie dazu geholfen hat diese Thematik wieder intensiver in die öffentliche Diskussion zu rücken.

7) Die Regionalsprache in der Schule

Dies ist das Gebiet, auf dem es den größten Fortschritt gibt und wo zugleich ein deutlicher Widerstand des Systems spürbar bleibt. Bis 1991 hat sich die Schulverwaltung mit einem Projekt zufrieden gegeben, demzufolge an den Grundschulen drei Stunden Deutsch pro Woche unterrichtet werden sollten. Allerdings ist Folgendes anzumerken:

  • 40 Jahre nach dem Versprechen dieses Deutschunterrichts, ist er noch immer nur teilweise umgesetzt worden: 90% an der Grundschule, aber nur 30% an der Vorschule; in manchen Klassen finden nicht drei, sondern zwei Stunden Deutsch oder sogar weniger statt.
  • Die Vorbereitung und die Fähigkeiten der betreffenden Lehrer sind sehr unterschiedlich; der Inhalt der Kurse wird weitgehend der Eigeninitiative des Lehrers überlassen.
  • Die erlangten Resultate sind ungewiss und allgemein bedürftig. Das Bildungssystem behauptet, dass das Sprachniveau der Grundschulabsolventen bei A+? laut dem GeR (Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen) liege. Tatsächlich aber liegen meistens die Ergebnisse noch unter diesem Niveau. • Die Betreuung der Kinder im Dialekt im Kindergarten wurde erst zugelassen, als es keine Dialektsprechende Kinder mehr gab.

In Anbetracht dieser Lage haben sich die Forderungen für den zweisprachigen Unterricht im Elsass an dem Modell orientiert, das sich in anderen französischen Regionen durchgesetzt hat,: nämlich das Unterrichten in der Regionalsprache ab der Vorschule und bis zum Abitur für die Hälfte der Schulzeit.

Ab 1991 hat der Verband ABCM als eine nichtöffentliche, aber durch die Gemeinden finanzierte Initiative, Klassen eröffnet, in denen der Unterricht ab der Vorschule auf Deutsch sogenannt „paritätisch“ stattfindet: zur Hälfte auf Französisch und zur Hälfte auf Deutsch. Nach einiger Zeit ist die Schulverwaltung nachgezogen. 2014 profitieren etwa 12% der Grundschulkinder von diesen Klassen. An einigen ABCM Schulen hat man neben dem Deutschen auch Aktivitäten im Dialekt organisiert.

Im Elsass wird viel Hoffnung in dieses Modell gesteckt, das als einzige Möglichkeit gesehen wird, die Zweisprachigkeit in der Region wenigstens zum Teil zu retten. Es gibt es jedoch zahlreiche Probleme:

  • die Bewerber für den Unterricht auf Deutsch sind weder dafür ausgebildet, noch sind sie in ausreichender Anzahl vorhanden oder verfügen sie über die entsprechenden Pädagogikkenntnisse.
  • Das Modell des Unterrichtens auf Deutsch an der Grundschule setzt eine Vorschule voraus, in der die Kinder zumindest passiv ausreichende Sprachkenntnisse erlangt haben, was jedoch nicht der Fall ist, wenn der „paritätische“ Unterricht erst in der Grundschule beginnt.
  • Mangels passender Ausbildung greifen die Lehrer oft auf traditionelle und schwerfällige Formen des Unterrichts zurück (Übersetzungen, Vokabellisten und Grammatikregeln lernen), was die Schüler demotiviert; es gibt besonders im pädagogischen Bereich keine wirksame Unterstützung für die Lehrer.
  • Dieser zweisprachige Unterricht findet häufig in einem negativen Umfeld statt, obwohl das Ziel der Zweisprachigkeit tatkräftig unterstützt werden müsste.
  • Es gibt an den Oberschulen keine entsprechende Weiterführung des „paritätisch“ zweisprachigen Unterrichts: ungefähr 4% der Schüler der unteren Sekundarstufe folgen eine sogenannte bilinguale Laufbahn mit wöchentlich 8 bis 9 Stunden Deutsch, zum Teil auch als Unterrichtsprache. In der oberen Sekundarstufe sind es noch 2% der Schüler. Obwohl das Projekt der Übermittlung der Regionalkultur einer breiten Schicht zugänglich sein sollte, werden also die bilingualen Klassen zu Eliteklassen gemacht.
  • Der „paritätische“ Unterricht entspricht eher einer theoretischen Stellungnahme (die förmliche Gleichstellung der Sprachen) als einer didaktischen Logik: wie in anderen Länder sollte man eigentlich die „Immersion“ in der schwächeren Sprache vorziehen.

Mit anderen Worten riskiert das Projekt, im Sande zu verlaufen, teilweise auf Grund mangelnder interner Kohärenz, aber auch wegen gezielten Mängeln in der Ausführung, die beweisen sollen, dass das Ziel sowieso nicht erreichbar ist.
Insgesamt bringt das öffentliche Schulsystem heute, abgesehen von einigen Ausnahmen, keine zweisprachigen Schüler hervor (ganz egal, wie man Zweisprachigkeit definiert), sondern lediglich Kinder mit einem Schuldeutsch, das etwas weniger schlecht ist als im Rest Frankreichs.

8) Zum Schluss

Meine Schlussfolgerungen erscheinen nicht sehr optimistisch. Gäbe es aber ein aufrichtiges Ziel, die Zweisprachigkeit dieser Region zurückzugewinnen, wäre es auch möglich, allerdings nur unter der Bedingung, dass eine umfassende Politik der sprachlichen Rückeroberung? betrieben würde, welche auf folgenden Punkten beruhen sollte:

  • einen effizienten Unterricht in der Regionalsprache umsetzen; das wäre eine Revolution des Bildungssystems, was eine grundlegende Reform der Lehrerausbildung und somit auch des Universitätssystems voraussetzt,
  • die Regionalsprache in der Öffentlichkeit wieder sichtbar machen und ihr einen bedeutungsvollen Platz einräumen,
  • Wiederherstellen eines echten Kulturlebens in dieser Sprache.

Der finanzielle Aufwand einer solchen Politik ist ziemlich begrenzt, aber es ist vor allem der politische Aufwand, der vermutlich nicht akzeptabel für die politisch-intellektuelle Elite unseres Landes ist.

Diese umfassende Sprachpolitik wird also noch nicht morgen umgesetzt werden…

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